Perspektiven der Kinderheilkunde in Berlin*
10 Thesen aus der Sicht der Berliner Gesellschaft für Kinderheilkunde
Hartmut Siemes
Teilnehmer der Arbeitsgruppe: Herr Dr. Th. Abel , Herr Dr. U. Fegeler, Herr Prof. G. Gaedicke, Frau Prof. A. Grüters, Frau Dr. E. Jäger-Roman, Frau Dr. E. Mildenberger, Herr Prof. H. Siemes, Herr Dr. W. Singendonk
Es ist die unverzichtbare Aufgabe der Kinderärzte, Wachstum und Entwicklung der Kinder und Jugendlichen zu begleiten, Gesundheitsstörungen zu verhüten oder frühzeitig zu erken-nen und im Falle der Krankheit eine dem Entwicklungsstand der Kinder angemessene, medi-zinisch fachkompetente und integrative Behandlung zu gewährleisten. In jeder Entwicklungsstufe des Kindes treten besondere altersgebundene Störungen und Krankheitsbilder auf. In den Fächern der Erwachsenenheilkunde fehlen die Kenntnisse über die altersspezifischen Schädigungsmuster und Krankheitsgruppen fast völlig. Da die zur Behandlung der Kinder erforderlichen umfassenden Kenntnisse und Fertigkeiten nur in der Weiterbildung zum Kin-derarzt vermittelt werden, ist der Beruf des Pädiaters auch in der Zukunft unverzichtbar.
Demographische Entwicklung in Berlin
Der Bedarf an pädiatrischer Versorgung ist direkt abhängig von der Geburtenziffer und der Zahl der zu versorgenden Kinder. In Deutschland wird ab der zweiten Hälfte des nächsten Jahrzehntes mit einem erheblichen Rückgang der Geburtenziffer (bis 30%) gerechnet, da die Zahl der Frauen im gebärfähigen Alter kontinuierlich ohne absehbare Änderungstendenz absinkt. Die Geburtenziffer in Berlin liegt seit längerem deutlich unter der Gesamtdeutsch-lands, beispielsweise betrug 1996 in Berlin die Zahl der Lebendgeborenen 8,6 pro 1000 Einwohner, in Deutschland noch 9,7. Von der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, Umwelt-schutz und Technologie wird prognostiziert, dass sich die bisher vergleichsweise besonders niedrige Geburtenziffer von Berlin-Ost bis zum Jahr 2010 immer mehr an die von Berlin-West angleichen wird und dass die Geburtenziffer für Gesamtberlin im Laufe des nächsten Jahrzehnts in etwa gleich bleiben wird. Die Altersgruppe der bis 15 Jahre alten Kinder machte in den letzten Jahren in Berlin etwa 15% der Bevölkerung aus (1996 etwa 500 000). Die Zahl der Kinder wird wahrscheinlich durch die fortlaufende Abwanderung gerade der Familien mit Kindern aus Berlin in das Umland bis zum Jahre 2010 um ca. 10% abnehmen.
These 1
Die Kinderheilkunde bleibt trotz erheblicher Änderung der Inhalte als inte-griertes Diagnose- und Behandlungskonzept unverzichtbar.
Bisherige Entwicklung
Die Schwerpunkte des Faches Kinderheilkunde haben sich im Laufe dieses Jahrhunderts fortlaufend geändert, wofür 1. der Wandel im Krankheitsspektrum, 2. Fortschritte in Diagnos-tik und Therapie und 3. Veränderungen der Lebensverhältnisse der Kinder verantwortlich sind (siehe Anlage).
Während am Anfang dieses Jahrhun¬derts schwere akute und chronische Infektionskrankhei-ten wie beispielsweise Masern, Scharlach, Poliomyelitis und Tuberkulose das Hauptbehand-lungsspektrum der Kinderheilkunde darstellten, sind es heute die eher leichter verlaufenden akuten Infektionskrankheiten, chronische Krankheiten und psychosoziale Gesundheitsstö-rungen.
Vor allem in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts hat der diagnostische und therapeutische Fortschritt zu einer erheblichen Veränderung der Inhalte der Pädiatrie beigetragen, und zwar durch Herstellung hochwirksamer Antibiotika und Impfstoffe, wirksame Behandlung vieler bösartiger Erkrankungen, Früherkennung und Behandlung zahlreicher angeborener Stoff-wechselkrankheiten, Intensivpflege von Neugeborenen und älteren Kindern sowie die moderne Kinderchirurgie, die z.B. das Überleben von Kindern mit sehr komplexen Fehlbildungen erst ermöglicht hat.
Der medizinische Fortschritt hat zu einem drastischen Absinken der Neugeborenen- und Säuglingssterblichkeit geführt. Die jetzigen niedrigen Zahlen sind durch medizinische Maß-nahmen kaum noch beeinflussbar. Die Zahl der Kinder mit schweren chronischen Krankhei-ten hat sich in den letzten Jahren nicht mehr wesentlich geändert, und ihre Zahl wird voraussichtlich auch in der Zukunft nicht entscheidend abnehmen. Daraus resultiert, dass bei abnehmender Geburtenziffer die chronischen Krankheiten relativ zunehmen.
Gesellschaftlicher Wandel mit zunehmender Gewalt gegenüber Kindern und unter Kindern und Jugendlichen, mit ansteigender wirtschaftlicher Armut, emotionaler Verarmung sowie zunehmender Vereinsamung und Perspektivlosigkeit eines beträchtlichen Teils der Kinder und Jugendlichen haben zu einer erhöhten psychosozialen Morbidität geführt.
Zukunftsperspektiven
Die Verhinderung von Krankheiten mit möglichem tödlichem Ausgang oder permanenter Schädigung hat in der kinderärztlichen Tätigkeit nach wie vor höchste Priorität. Die unver-zichtbare besondere Aufgabe der Pädiatrie ist aber die Begleitung der komplexen Wachs-tums- und Entwicklungsprozesse der Kinder und Jugendlichen. Von der Neugeborenenperiode an bietet jeder Entwicklungsabschnitt besondere somatische, mentale und psychosoziale Probleme, die jeweils spezielle Kenntnisse in Diagnostik und Therapie erfordern, welche erst durch eine langjährige Ausbildung und Berufserfahrung erworben werden können. Inso-fern wird die Pädiatrie immer ein eigenständiges Fach bleiben, der Kinderarzt kann niemals durch einen Arzt einer anderen Disziplin ersetzt werden.
Die Fortschritte in Genetik, vorgeburtlicher Diagnostik und Molekularbiologie in Verbindung mit der Entwicklung neuer therapeutischer Konzepte werden es zukünftig möglich machen, dass Kinder mit sehr speziellen angeborenen Fehlbildungen, Stoffwechselkrankheiten und Entwicklungsstörungen überleben. Damit es zu einem Überleben mit möglichst hoher und ethisch verantwortbarer Lebensqualität kommt, ist es zwingend notwendig, dass die Pädiater für die Gesundheitsversorgung dieser Patienten zuständig bleiben. Nur die Kinderheilkunde vermittelt im Rahmen der Weiterbildung schon heute als einzige Fachdisziplin ausreichende Kenntnisse über diese Erkrankungen und gleichzeitig das Wissen über die altersgerechten Entwicklungsschritte und Bedürfnisse dieser Patientengruppen. Diese Tatsache hat schon dazu geführt, dass viele junge Erwachsene mit speziellen Krankheiten wie z. B. Zystischer Fibrose, Spina bifida, adrenogenitalem Syndrom oder Thalassämie, die durch den medizinischen Fortschritt erst jetzt das Erwachsenenalter erreichen, in der Betreuung von Kinderärzten verbleiben, da eine qualifizierte Versorgung im Bereich der Erwachsenenmedizin nicht gewährleistet ist.
These 2
Prävention, Früherkennung und Sicherstellung der Behandlung psycho-sozialer Störungen sind wichtige zukünftige Aufgaben der Kinderheilkunde.
Bisherige Entwicklung
Die Rate der Scheidungen und die Zahl alleinerziehender Eltern hat erheblich zugenommen, was ein höheres Risiko für Entwicklungsstörungen der Kinder darstellt. In Armut aufwach-sende Kinder mit einem alleinerziehenden Elternteil sind besonders von Gewalt und Drogen bedroht. Arbeitsplatzmangel zwingt zu einer größeren örtlichen Mobilität der Eltern, wodurch die Kinder häufig ihr vertrautes soziales Umfeld aufgeben müssen. Die Unterschiede des Einkommens zwischen armen und reichen Familien sind in den letzten Jahren immer größer geworden. Zahlreiche Untersuchungen haben gezeigt, dass eine Beziehung zwischen Armut und einer erhöhten Frühgeburtlichkeitsrate, Mangelernährung, Häufigkeit der Erkrankung an Infektionskrankheiten, Asthma, Entwicklungsstörungen und Verhaltensauffälligkeiten besteht. Insofern ist bei zunehmender Verarmung eines Teils der Bevölkerung auch mit einem An-stieg dieser Störungen zu rechnen. Durch eine permanente Immigration kommen mehr Kin-der mit anderem ethnischen, kulturellen und religiösen Hintergrund nach Deutschland und Berlin, was ebenfalls neue gesundheitliche und soziale Probleme mit sich bringt.
Die Morbiditätsrate psychosozialer Krankheiten und Störungen, wozu das Aufmerksamkeits-defizit-Hyperaktivitäts-Syndrom, Verhaltensstörungen, Essstörungen, Sucht- und Drogen-probleme, psychische und psychosomatische Störungen infolge zerbrochener Familien, psy-chiatrische Störungen einschließlich Depression gehören, bei Kindern und Jugendlichen ist gestiegen, sie beträgt heute etwa 25%.
Zukunftsperspektiven
Prävention, Früherkennung und Sicherstellung der Behandlung der psychosozialen Störun-gen bei Kindern und Jugendlichen werden wichtige Aufgaben der zukünftigen Pädiatrie sein. Gerade die gesundheitliche Versorgung der Jugendlichen sollte eine wichtige Aufgabe des niedergelassenen Pädiaters werden, wozu die Prävention von Unfällen, Gewalt, Misshand-lung sowie die Erkennung und Behandlung psychischer und psychosomatischer Störungen (Somatisierungsstörungen) sowie schwerer Verhaltensprobleme gehören. Die Jugendmedi-zin mit ihren besonderen Aufgaben des psychosozialen und psychiatrischen Screenings ist bisher noch nicht so in der Kinderheilkunde verankert, wie es eigentlich notwendig wäre.
Zur Lösung der vielfältigen psychischen und sozialen Probleme der betroffenen Kinder und Jugendlichen ist eine multidisziplinäre Zusammenarbeit von Kinderärzten, Kinder- und Ju-gendpsychiatern, Psychologen, Sozialarbeitern und Pädagogen notwendig, wobei die Kin-derärzte koordinierende Funktionen übernehmen sollten. Die Pädiater sehen die Kinder zu Beginn der Probleme, wo in vielen Fällen eine Intervention noch erfolgreich ist. Die Früher-kennung dieser Krankheitsgruppe sollte eine ebenso große Bedeutung bekommen wie das Screening für Seh- und Hörstörungen.
These 3
Die niedergelassenen Pädiater werden auch in Zukunft Hausärzte der Kin-der bleiben. Wirtschaftlichkeit, Effektivität und Erreichbarkeit von Kinder-arztpraxen erfordern aber neue Organisationsstrukturen.
Bisherige Entwicklung
Behandelbare, aber nicht heilbare chronische Krankheiten (z.B. Asthma als häufigste Ursa-che, ca. 5% der Kinder betreffend) sowie mentale Behinderungen, Lern- und Verhaltensprob-leme, psychosomatische und psychosoziale Störungen spielen eine immer größere Rolle. Präventive Maßnahmen wie Impfungen und Vorsorgeuntersuchungen nehmen schon heute einen breiten Raum in der kinderärztlichen Praxis ein.
Einerseits fordern die Eltern kranker Kinder bzw. die jugendlichen Patienten vom Kinderarzt immer mehr ein hohes Spezialwissen, andererseits bringt die hohe Arztdichte in Berlin es mit sich, dass Fachärzte von Spezialgebieten ( z.B. Urologen, Pulmologen, Kardiologen) mit den Kinderärzten um das Kind und den Jugendlichen als Patienten konkurrieren. Dieser zuneh-mende Qualitätsdruck und die Forderung nach einer Erreichbarkeit des kinderärztlichen Hausarztes zu jeder Zeit stellen die Effektivität der pädiatrischen Einzelpraxis immer mehr in Frage.
Zukunftsperspektiven
Der künftige prozentuale Zeitaufwand für die Haupt¬tätigkeiten in einer Kinderarztpraxis wird folgendermaßen eingeschätzt: akut kranke Kinder ca. 40%, Vorsorgeuntersuchungen, Imp-fungen, psychosoziale Beratungen ca. 40% und Betreuung chronisch kranker Kinder und Jugendlicher ca. 20%. Der niedergelassene Kinderarzt muss demnach in der Zukunft eine besondere Kompetenz zur Übernahme präventiver und sozialpädiatrischer Aufgaben entwickeln. In der Bewahrung der ganzheitlichen Betrachtungsweise wird die besondere Aufgabe des niedergelassenen Kinderarztes liegen, der die notwendigen speziellen Untersuchungen koordiniert, in einem Gesamtzusammenhang bewertet und die notwendigen Behandlungen durchführt oder veranlasst.
Wegen der zunehmenden Anforderungen an fachlicher und sozialer Kompetenz und an Prä-senz in den Abendstunden und an den Wochenenden werden die niedergelassenen Kinderärzte neue Kooperationsformen finden müssen. Stadtteilbezogene Gruppenpraxen mit mehreren Kinderärzten, die unterschiedliche fachliche Schwerpunkte vertreten, bieten die Mög-lichkeiten der ökonomischeren Nutzung der Praxis-Ressourcen, insbesondere der medizinischen Geräte sowie eines ständigen fachlichen Austausches. Die Betreuung der Patienten außerhalb der üblichen Sprechzeiten ließe sich leicht organisieren. Eine enge räumliche und personelle Anbindung von nichtärztlichem medizinischem Personal, von Krankengymnasten, Ergotherapeuten und Logopäden an die Gruppenpraxis sollte angestrebt werden. Eine Zu-sammenarbeit mit Kinderpsychiatern und Psychologen sowie mit der häuslichen Kinderkran-kenpflege und sozialen Einrichtungen des öffentlichen Gesundheitsdienstes ließe sich leich-ter bewerkstelligen. Dadurch könnten die betroffenen Kinder kostensparend in der Basisver-sorgung verbleiben und müssten nicht weitergeleitet werden. Zur Überwindung der Trennung von ambulanter und stationärer Kindermedizin könnten Spezialisten aus einer solchen Grup-penpraxis Konsiliarfunktionen in einer Kinderklinik wahrnehmen und/oder Patienten in Spezi-alambulanzen an einer Kinderklinik mitbetreuen.
These 4
Der Aufgabe der Universitätskinderkliniken als integrierte Einrichtungen von Forschung, Lehre und Krankenversorgung muss durch Größe, Per-sonalstruktur und Finanzierung Rechnung getragen werden.
Bisherige Entwicklung
Die historischen und gegenwärtigen Aufgaben der universitären Pädiatrie sind
1. Lehre
2. Forschung
3. Krankenversorgung
Die Berliner Hochschulmedizin, und damit auch die Pädiatrie, hat nach der Vereinigung der beiden deutschen Teilstaaten, vor allem durch die notwendig gewordene Zusammenlegung zweier Fakultäten, eine tiefgreifende Neustrukturierung erfahren. Dieses eröffnet auch neue Lösungswege für schon langjährig bestehende Strukturprobleme. Alle die Kinder behandelnden Institutionen der Charité haben sich zum „Otto-Heubner-Centrum für Kinder- und Ju-gendmedizin“ zusammengeschlossen.
Zukunftsperspektiven
Die Universitätskinderkliniken werden auch in Zukunft für Lehre, Forschung und Krankenver-sorgung als integrierte Einrichtungen zuständig bleiben. Als Stätten der Ausbildung für Stu-dierende der Medizin und der Qualifikation für den wissenschaftlichen Nachwuchs nehmen sie im System der medizinischen Versorgung eine Sonderstellung ein, der im Hinblick auf Struktur und Finanzierung Rechnung getragen werden muss. Entsprechend ihrem Auftrag müssen sie über eine angemessene Größe verfügen, wobei die Zahl der Betten nicht mehr den adäquaten Bezugswert darstellt. Die Ausweitung der Aufgaben in Lehre, Forschung und spezialisierter Krankenversorgung erfordert ein neues Strukturkonzept der Personalplanung. In allen Bereichen ist eine leistungsorientierte, budgetierte Quote von Stellen notwendig.
Die Lehre muss das gesamte Spektrum der Pädiatrie möglichst praxisorientiert darbieten. Deshalb sollten die universitären Polikliniken und die Sozialpädiatrischen Zentren verstärkt in die Lehre eingebunden werden. Bezüglich der nicht spezialisierten, praktischen Pädiatrie sollte stärker als bisher mit den regionalen Krankenhäusern (Lehrkrankenhäusern) und mit kinderärztlichen Praxen (Lehrpraxen) kooperiert werden. Hierzu ist notwendig, ein neues Curriculum, welches die Ausbildung im Praktischen Jahr und des Arztes im Praktikum mit einschließt, zu erarbeiten.
Im Hinblick auf die klinische Forschung sollten durch flexible Strukturen optimale Rahmenbe-dingungen geschaffen werden. Dazu gehören: Interdisziplinarität, gezielte Entwicklung eines hochschulspezifischen Forschungsprofils, Vergabe von Forschungsmitteln nach Leistung, die Molekulare Medizin als Forschungsschwerpunkt, die Nachwuchsförderung und die getrennte Verwaltung der Forschungsmittel (Lehmann-Horn 1999).
Auch in den Universitätskinderkliniken findet immer mehr eine Verlagerung der Krankenver-sorgung vom stationären in den ambulanten Bereich statt. Die Kontinuität von Lehre, For-schung und spezialisierter Krankenversorgung erfordert deshalb die Einrichtung bzw. Fortbe-stand von Spezial-Ambulanzen und Sozialpädiatrischen Zentren.
Die zukünftigen Haupttätigkeitsfelder des Kinderarztes müssen auch in der klinischen For-schung ihren Niederschlag finden. Es sollten epidemiologische und praktisch klinische For-schungsprojekte zur Prävention und Therapie pädiatrischer Krankheits¬bilder in Kooperation mit regionalen Einrichtungen und niedergelassenen Kinderärzten durchgeführt werden, z.B. zur Evaluation der Vorsorgeuntersuchungen und der Behandlung häufiger pädiatrischer Er-krankungen.
These 5
Durch Strukturwandel und Kostendruck ist der Fortbestand vieler Kinderkliniken gefährdet, neue Organisationsformen müssen gefunden werden. Die stationäre Behandlung von Kindern in Kliniken für Erwachsene ist nicht akzeptabel.
Bisherige Entwicklung
Die stationäre Kinderheilkunde ist vom Strukturwandel gleichermaßen wie die ambulante Kinderheilkunde betroffen. Aus mehreren Gründen kam es zu einer fortschreitenden Reduk-tion der stationären Kinderbetten: 1. Abnahme der Geburten und damit der zu versorgenden Kinderzahl, 2. Verkürzung der Liegezeiten und 3. zunehmender Verlagerung der kinderärztli-chen Versorgung in die ambulante Pädiatrie. Gleichzeitig hat die Zahl der chronischen Er-krankungen mit der Notwendigkeit einer hochspezialisierten stationären Versorgung nicht abgenommen, denn durch die moderne medizinische Technologie und die hocheffiziente Pflege überleben mehr Kinder mit schweren und nicht heilbaren Krankheiten.
Infolge des Strukturwandels in der Pädiatrie sind in Berlin im Laufe der letzten Jahrzehnte eine Reihe von Kinderkliniken geschlossen worden. Alle noch bestehenden nichtuniversitä-ren Kinderkliniken wurden weiter verkleinert, und es ist abzusehen, dass auch in Zukunft der Bedarf an stationären Kinderbetten noch weiter abnimmt.
Auf Grund der schon jetzt erreichten geringen Größe einer Reihe von Berliner Kinderkliniken sind ihre Wirtschaftlichkeit und ihre fachliche Kompetenz in Frage gestellt, denn es ergeben sich folgende Probleme:
1. Die Besetzung der Nacht- und Wochenenddienste mittels des in der Klinik angestellten Personals wird immer schwieriger.
2. Der Anspruch auf hochspezialisierte und hochtechnisierte Patientenversorgung in allen Bereichen der Kinderheilkunde kann nicht mehr erfüllt werden.
3. Die Weiterbildung der Ärzte nach der neuen Weiterbildungsordnung ist nicht mehr mög-lich, da der vorgeschriebene Katalog von Fertigkeiten dort nicht erworben werden kann.
Eine der Belegung der Kinderkliniken besonders abträgliche Entwicklung ist die stationäre Behandlung einer großen Zahl von Kindern in Erwachsenenabteilungen. Im Jahr 1996 wur-den in Berlin 25% aller Kinder bis zum Alter von 15 Jahren (d.h. an jedem Tag 285 Kinder) in Erwachsenenabteilungen stationär behandelt, etwa 30% dieser Kinder waren sogar unter 5 Jahre alt.
Zukunftsperspektiven
Strukturwandel und Kostendruck erfordern auch in der stationären Kindermedizin neue Or-ganisationsformen. Zur Sicherstellung der Behandlung kranker Kinder und Jugendlicher bie-ten sich grundsätzlich zwei Lösungswege an:
1. Die Betten werden in wenigen großen Kinderkliniken konzentriert. Als Vorteile ergeben sich eine hohe Fachkompetenz und bessere Nutzung der medizinischen Geräte. Ein Nachteil ist der weitere Weg für diejenigen Patienten, die nicht im näheren Einzugs¬bereich dieser Kli-niken wohnen.
2. Im Rahmen eines Kooperationsmodells kooperieren kleinere Kinderkliniken bzw. Abteilun-gen mit einer Universitätskinderklinik bzw. mit einer anderen großen Kinderklinik, wo Fach-ärzte mit speziellen Fachkenntnissen tätig sind. Eine Konsultation fachkompetenter Kollegen wäre dann jederzeit möglich.
Während das Kooperationsmodell in dünn besiedelten Landbezirken Vorteile bietet,
spricht das gut ausgebaute Verkehrsnetz in Berlin und seiner Umgebung für die Versor-gungsstruktur mittels großer Kinderklinken. Die Aufrechterhaltung bzw. Bereitstellung einiger nichtuniversitärer Kinderkliniken in der Größe von etwa 100-200 Betten wie in den vergleich-baren Universitätsstätten Hamburg (2 Kinderkliniken mit 195 bzw. 150 Betten) und München (drei Kinderkliniken mit 175 bzw. 96 bzw. 90 Betten) erscheint aus Gründen der Kompetenz und der Wirtschaftlichkeit sinnvoll.
Zukünftig sollten alle mit der Behandlung von Kindern befassten Fachdisziplinen, nämlich Pädiatrie einschließlich Neonatologie und Intensivpflege, Kinderchirurgie, Kinderorthopädie und Kinder- und Jugendpsychiatrie möglichst unter einem Dach zusammengefasst werden. Kinder, die der Behandlung in einer Erwachsenendisziplin bedürfen, sollten unbedingt in die Kinderklinik aufgenommen und dort betreut werden. Die optimale Versorgung von Neugeborenen erfordert darüber hinaus die Wand-an-Wandlage von Geburtshilfe und Neonatologie.
These 6
Die Sozialpädiatrie als ein essentielles, übergreifendes Element der Kin-derheilkunde sollte einen höheren Stellenwert in Lehre und Forschung bekommen. Für Berlin erscheinen 3 bis 4 überregionale Sozialpädiatri-sche Zentren als ausreichend.
Bisherige Entwicklung
Die Sozialpädiatrie als ein essentielles, gebietsübergreifendes Element der Kinderheilkunde befasst sich mit den Wechselbeziehungen zwischen dem Kind bzw. Jugendlichen und der Gesamtgesellschaft. Sie analysiert die sozialen Bedingungen von Krankheiten der Kinder und Jugendlichen und leitet daraus Grundlagen und Empfehlungen für gesundheitspoliti-sches Handeln ab. Die wesentlichen Träger der gegenwärtig praktizierten Sozialpädiatrie im Gesundheitswesen sind: Praxen niedergelassener Kinderärzte (Durchführung von Impfun-gen, Früherkennungsuntersu¬chungen, Beratungen), der Öffentlichen Gesundheitsdienst, Re-habilitationsstationen in Kinderkliniken, Vorsorge- und Rehabilitationskliniken für Kinder- und Jugendliche und Sozialpädiatrische Zentren.
Die Sozialpädiatrie hat die Einrichtung von Sozialpädiatrischen Zentren zu ihrem besonderen Anliegen gemacht. Die Hauptaufgabe dieser in der Regel an Kinderkliniken angebundenen ambulanten Institutionen ist die ganzheitliche, koordinierende, multidisziplinäre Versorgung von Kindern und Jugendlichen mit komplexen chronischen Krankheiten und Behinderungen und deren Familie. Dort wird der Verbesserung der Lebensqualität der entwicklungsbehinder-ten Patienten eine ganz besondere Beachtung geschenkt, damit die Patienten ein möglichst selbstbestimmtes Leben führen können. Die Tätigkeit der SPZ ist komplementär zur Versor-gung der niedergelassenen Ärzte.
Zukunftsperspektiven
In Berlin befindet sich eine Vielzahl von Sozialpädiatrischen Zentren (zur Zeit etwa 20) in un-terschiedlicher Größe und mit differierender Qualität. Für Berlin wäre die Einrichtung von drei bis vier überbezirklichen Sozialpädiatrischen Zentren mit überwiegend medizinisch-diagnostischen Aufgaben ausreichend, wobei die einzelnen Zentren ihre Schwerpunkte auf-einander abstimmen müssten. Eine größere Zahl dezentraler Therapieeinrichtungen (Kinder- und Jugendambulanzen) sollte zu Trägerverbänden zusammengefasst werden und mit the-rapeutischem Schwerpunkt in Wohnortnähe die Versorgung der entwicklungsgestörten Kin-der sicherstellen. Zur Qualitätssicherung ist eine enge Kooperation aller Therapieeinrichtun-gen durch gemeinsame Fortbildungen und Ausarbeitung diagnostischer und therapeutischer Richtlinien unbedingt notwendig.
Sozialpädiatrische Aspekte müssen in Lehre und Forschung sowie in der kinderärztlichen Weiter- und Fortbildung einen sehr viel höheren Stellenwert als bisher erhalten. Da es bisher an deutschen Universitäten weder einen Lehrstuhl für Sozialpädiatrie gibt, noch einen Hoch-schullehrer innerhalb einer Universitätskinderklinik, dessen wissenschaftlicher Schwerpunkt die Sozialpädiatrie wäre, böte es sich an, hier in Berlin an einer der beiden Universitäten ei-nen Lehrstuhl für Sozialpädiatrie einzurichten und dort die Sozialpädiatrie zu einem For-schungsschwerpunkt zu machen.
These 7
Der Öffentliche Gesundheitsdienst soll auch in der Zukunft Aufgaben der Gesundheitsschutzes und Gesundheitsfürsorge erfüllen und vor allem in aufsuchender und nachgehender Tätigkeit einen Mindeststandard an ge-sundheitlicher Versorgung garantieren.
Bisherige Entwicklung
Rolle und Selbstverständnis des Öffentlichen Gesundheitsdienstes (ÖGD) haben sich in den letzten Jahrzehnten erheblich gewandelt. Zu den schon lange bestehenden hoheitlichen Auf-gaben des Gesundheitsschutzes und der Gesundheitsaufsicht kommen jetzt vor allem pla-nende und koordinierenden Aufgaben der Gesundheitsförderung und Prävention hinzu. Die besondere Aufmerksamkeit gilt hier den sozial gefährdeten Bevölkerungsgruppen. Untersu-chungen bestimmter Zielgruppen, beispielsweise Unter¬suchun¬gen der Schulanfänger, sind Grundlage für die Erfassung des Gesundheitszustandes eines ganzen Bevölkerungsquer-schnittes und Voraussetzung für gesundheitspolitische Entscheidungen. Die Gesundheitsfür-sorge veranlasst und koordiniert gesundheitliche Maßnahmen im Einzelfall, besonders bei Kindern aus sozial unterprivilegierten Familien.
Zukunftsperspektiven
Folgende Aufgaben könnte der ÖGD zukünftig übernehmen:
1. Erhebung örtlicher epidemiologischer Daten als Grundlage für die Gesundheitsförderung und die gezielte Prävention
2. Koordination der sich daraus ergebenden Maßnahmen
3. Aufsuchende und nachgehende Tätigkeit bei Kindern mit besonderen psychosozialen Problemen
Kinder aus sozial benachteiligten Familien partizipieren nicht ausreichend an den Leistungen des Gesundheitswesens, die in „Komm-Strukturen“ (Praxen, Kliniken und anderen Einrich-tungen) angeboten werden. Die Bereitstellung von Diensten, die bei definierten Zielgruppen in aufsuchender und nachgehender Tätigkeit (Hausbesuche) kompensatorisch einen Min-deststandard an gesundheitlicher Versorgung sicherstellen, muss weiterhin eine wesentliche Aufgabe des Öffentlichen Gesundheitsdienstes bleiben.
4. Ausbau eines jugendärztlichen Schwerpunktes bei der gesundheitlichen Betreuung der Schulen
Hier sollten die Bemühungen der niedergelassenen Kinderärzte um eine bessere gesundheit-liche Versorgung von älteren Schülern und Jugendlichen mittels besondere Strategien wir-kungsvoll unterstützt werden. In den Schulen können Jugendärzte des ÖGD als „Betriebsärz-te für die Schule“ in einem sehr bedeutsamen Umfang präventive und beratende Aufgaben übernehmen, z.B. auch im Bereich der Suchtprävention.
These 8
Im Medizinstudium müssen Ziele und Ausbildungskatalog den Erforder-nissen einer modernen Pädiatrie angepasst werden.
Bisherige Entwicklung
Die fortschreitende Differenzierung innerhalb der medizinischen Fächer hat zu einer ständi-gen Vermehrung des Lehr- und Lernstoffes geführt, was im Rahmen des bisherigen traditio-nellen Ausbildungsschemas nicht mehr bewältigt werden kann und zu erheblichen Ausbil-dungsmängeln geführt hat. Dieses hat den Wissenschaftsrat veranlasst, Leitlinien zur Reform des Medizinstudiums (1992) zu erstellen. Die Leitgedanken dieser Schrift wurden Grundlage des Berliner Reformstudiengangs als Modell des zukünftigen Medizinstudiums (1998).
Bezüglich des Inhaltes des Faches Kinderheilkunde gilt bisher, dass die klassischen pädiatri-schen Krankheiten und insbesondere die von den verschiedenen Subspezialitäten vertrete-nen Organkrankheiten noch immer fast völlig den Ausbildungskatalog für Studenten beherr-schen.
Zukunftsperspektiven
Neben dem Erwerb eines medizinischen Grundwissens ist zukünftig die Ausbildung der sozi-alen Kompetenz ein wichtiges Ziel des Medizinstudiums. Diesen Aufgaben versucht der Ber-liner Reformstudiengang gerecht zu werden.
Ausbildungsziele sind im Einzelnen:
1. Erwerb ausreichender medizinischer Kenntnisse, Fertigkeiten und Fähigkeiten
2. Treffen ärztlicher Entscheidungen unter Einbeziehung ethischer, wirtschaftlicher und öko-logischer Aspekte
3. In der Lage sein, die eigene Kompetenz richtig einzuschätzen und im Team zu arbeiten
4. In der Lage zu sein, Wissen und Fertigkeiten an Patienten, deren Angehörige und medizi-nisches Personal zu vermitteln
5. Bereitschaft zur Fortbildung nach dem Studium in eigener Verantwortung
6. Befähigung zu wissenschaftlichem Denken und Arbeiten
Die zentrale Lehr und Lernmethode im Reformstudiengang stellt das problemorientierte Ler-nen dar. Die medizinischen Inhalte werden fächerübergreifend, in Form einer Lehr und Lernspirale mit zunehmender Komplexität im gesamten Studienverlauf wiederkehrend, dar-gestellt. Der Wandel der Inhalte der Pädiatrie erfordert eine Änderung des pädiatrischen Ausbildungskataloges, dabei müssen vor allem auch die sozialpädiatrischen Aufgaben be-rücksichtigt werden. Der Berliner Reformstudiengang sollte als Pilotprojekt umfassend geför-dert und evaluiert werden.
These 9
Auf Grund der veränderten Inhalte der modernen Kinderheilkunde muss die Weiterbildung der Kinderärzte reformiert werden. Nach dem Erwerb des Facharztes ist eine kontinuierliche berufliche Fortbildung mit wirksa-mer Erfolgskontrolle notwendig.
Bisherige Entwicklung
Das Fachgebiet Kinderheilkunde ist im Laufe der letzten Jahrzehnte außerordentlich umfang-reich geworden. In den verschiedenen Subdisziplinen ist ein Zustand höch¬ster Spezialisie-rung erreicht. Für den einzelnen Kinderarzt ist es deshalb unmöglich, das gesamte Fachwis-sen zu beherrschen.
Die Aufgaben und Tätigkeiten der in Krankenhäusern beschäftigen Weiterbildungsas-sistenten unterscheiden sich zum Teil ganz erheblich von denen der niedergelassenen Kin-derärzte. Bestimmte Fertigkeiten werden während einer ausschließlichen Kliniktätigkeit über-haupt nicht erlernt, z.B. Früherkennungsuntersuchungen aller Altersstufen, Untersuchungen nach dem Jugendarbeitsschutzgesetz, Rehabilitations- und Fördermaßnahmen.
In der Weiterbildungsordnung der Ärztekammer Berlin sind die Definition des Faches, die Weiterbildungszeit sowie die Inhalte und Ziele der Weiterbildung zum Arzt für Kinderheilkun-de festgelegt. Die jetzigen Richtlinien über den Inhalt der Weiterbildung bestehen im wesent-lichen aus Festlegungen von unrealistisch hohen Zahlen von Untersuchungen und zu erler-nender Techniken. Sie spiegeln somit ein Zerrbild der Inhalte der Kinderheilkunde wider, in denen Sonographie, Allergologie und Neonatologie/Inten¬sivmedizin überrepräsentiert sind und andere Subspezialitäten (z.B. Neuropädiatrie, pädiatrische Onkologie) nicht einmal er-wähnt werden.
Berufliche Fortbildung ist für eine qualifizierte Leistungserbringung unerlässlich, da sich das Fachwissen in immer kürzeren Zeitabschnitten vervielfacht. Die Vereinigung der Fachärzte in der Europäischen Union (UEMS) hat in ihrer „Charta on Continuing Medical Education“ de-taillierte Aussagen zur Fortbildung verabschiedet. In den meisten europäischen Ländern sind Fortbildungsprogramme und Strukturen entwickelt worden, die den Forderungen einer „Con-tinuing Medical Education“ der Kinderärzte gerecht werden, jedoch noch ungenügende in Deutschland. In Berlin besteht zwar ein großes und vielfältiges Fortbildungsangebot für Kin-derärzte, ein Teil der Ärzteschaft entzieht sich aber ohne persönliche Nachteile und Konse-quenzen der Fortbildungsverpflichtung.
Zukunftsperspektiven
Den veränderten Inhalten und Aufgaben der heutigen und zukünftigen Pädiatrie muss die Weiterbildungsordnung grundsätzlich Rechnung tragen. Es sollte das Ziel der Weiterbildung sein, allen Kinderärzten als Basis ihrer zukünftigen Tätigkeit gute Kenntnisse und sicheren Umgang mit einerseits häufigen und andererseits bedrohlichen pädiatrischen Erkrankungen zu vermitteln. Die Einbeziehung von Kinderarztpraxen (Lehrpraxen) in die Weiterbildung ist aus diesem Grund dringend geboten.
Die über eine Basisausbildung hinausgehende Weiterbildung muss neu definiert werden. Im Anschluss an eine 3jährige Basisausbildung sollte je nach angestrebtem Berufsziel die Wei-terbildung in drei unterschiedliche Schwerpunkte aufgetrennt werden: Niederlassung, Kran-kenhausmedizin und Öffentliches Gesundheitswesen einschließlich Public Health und Epi-demiologie. Inhalte und Durchführung der zukünftigen deutschen Weiterbildung zum Kinder-arzt erfordern eine Angleichung an die europäische Weiterbildungsordnung.
Da es eine sehr große Zahl von Bewerbern um eine vergleichsweise geringe Zahl von Wei-terbildungsstellen in den Kinderkrankenhäusern gibt, bietet die Teilzeitarbeit als eine zeitge-mäße Arbeitsform die Möglichkeit, mehr Kinderärzte auszubilden. Die Weiterbildung in Teil-zeitarbeit und Vollzeitarbeit sollten als gleichwertig angesehen werden. Um genügend Kin-derärzte ausbilden zu können, sollten außerdem Ausbildungsplätze in Kinderarztpraxen (Lehrpraxen) zur Verfügung gestellt werden.
Nach Abschluss der Weiterbildung zum Kinderarzt ist in Berlin eine Fortbildung im Rahmen der „Continuing Medical Education“ Programme wie in vielen anderen europäischen Ländern notwendig. Das Fortbildungssystem muss in Anlehnung an die europäischen Richtlinien die Verpflichtung zur Fortbildung und eine regelmäßige Erfolgskontrolle einschließen. Die Ausar-beitung von wissenschaftlich begründeten diagnostischen und therapeutischen Leitlinien durch die Fachgesellschaften und die modernen elektronischen Medien bieten die Möglich-keit, die Fortbildung der Kinderärzte verbessern.
These 10
Die strenge Auftrennung der pädiatrischen Versorgung in stationär und ambulant muss überwunden werden. Integrierte ambulant-stationäre Ver-sorgungssysteme sollten erprobt werden.
Bisherige Entwicklung
Im Laufe der letzten Jahrzehnte hat sich an der strikten Auftrennung in eine stationäre und eine ambulante Pädiatrie nichts geändert. Die Hauptlast der ärztlichen Versorgung der Kin-der tragen die niedergelassenen Kinderärzte, die in der Regel von der stationären Pädiatrie ausgeschlossen sind. Die Kommunikation von Seiten der Kliniken findet in der Regel nur über Arztbriefe statt. Niedergelassene Kinderärzte beklagen sich besonders darüber, dass ihre Informationen bei der stationären Behandlung ihrer Patienten nicht berücksichtigt wer-den und dass sie nach der Entlassung des Kindes aus dem Krankenhaus nur ungenügend über die vorgenommenen Maßnahmen informiert werden.
Zukunftsperspektiven
Die Verlagerung der ärztlichen Versorgung aus dem stationären in den ambulanten Bereich wird sich weiter fortsetzen. Diesem unaufhaltsamen Vorgang muss durch Strukturänderun-gen Rechnung getragen werden. Mehrere Wege können beschritten werden, um stationäre und ambulante Kindermedizin zu verzahnen.
1. Beteiligung der niedergelassenen Kinderärzte an der Krankenversorgung in den Kinder-krankenhäusern
In einem ersten Schritt sollte niedergelassenen Kinderärzten die Möglichkeit geboten wer-den, sich an der Krankenversorgung in den Kinderkrankenhäusern im Rah¬men von Erste Hilfestellen zu beteiligen. Durch die Einbeziehung von niedergelassenen Vertragsärzten in die Aufnahmeentscheidungen in 1. Hilfe- bzw. Notaufnahmestellen können unnötige Kran-kenhausaufenthalte vermieden werden.
2. Von Klinikärzten und niedergelassenen Pädiatern gemeinsam ausgerichtete Spezial-sprechstunden in Anbindung an Kinderkliniken
Eine weitere Möglichkeit der Aufhebung der Trennung von stationärer und ambulanter Kin-derheilkunde ist die Einrichtung ambulanter Spezialsprechstunden, in denen, zeitlich be-grenzt, die Spezialisten einer Kinderklinik und niedergelassene Experten gemeinsam tätig sind. Solche Spezialsprechstunden sind für alle Subspezialitäten der Pädiatrie denkbar. Vor allem bei chronisch kranken Kindern, die bisher häufig stationärer Behandlung bedürfen, könnte dadurch die Zahl der Krankenhausaufenthalte erheblich reduziert werden.
3. Übernahme von Konsiliar- bzw. Oberarztfunktionen in Kinderkliniken durch spezialisierte niedergelassene Kinderärzte
Entsprechend dem Consultant-System in einigen anderen europäischen Ländern könnten niedergelassene Kinderärzte mit einer speziellen Fachkompetenz eine Beratungsfunktion bzw. Oberarztfunktion in Kinderkliniken übernehmen. Der fachliche Austausch würde die fachliche Kompetenz aller Beteiligten erhöhen und vor allem den Patienten zu Gute kommen.
4. Vernetzung der ambulanten und stationären Versorgung im Rahmen privatwirtschaftlich betriebener Gesundheitszentren
Es bedarf keiner Begründung, dass die Vereinigung von ambulanter und stationärer Kinder-heilkunde innerhalb einer Institution, z. B. in einem „Kindergesundheitszen¬trum“, erheblich kostengünstiger und effektiver wäre. In diesem Fall könnten verschiedene Versorgungsebe-nen gebildet werden:
1. Ambulante hausärztliche Primärversorgung;
2. Spezialsprechstunden;
3. teilstationäre Behandlung;
4. vollstationäre Behandlung (bei direkter Anbindung an eine bestehende Kinderklinik).
Das Ziel eines solchen gestuften Versorgungssystems ist „ambulant vor stationär“. Der Pati-ent könnte die Versorgungsebene rasch wechseln. Niedergelassene Ärzte und Kinderärzte in der engeren und weiteren Umgebung eines solchen Kindergesundheitszentrums könnten im Rahmen eines Netzwerkes angebunden werden. Die Nutzung von medizinischen Geräten könnte optimiert werden. Die Weiterbildung dort tätiger Ärzte zu Fachärzten für Kinderheil-kunde geschähe umfassend und praxisnah. Nichtmedizinisches Personal wie Krankengym-nasten, Ergotherapeuten und Psychologen könnte eingestellt bzw. direkt angebunden wer-den. Mit dem externen Pflegedienst sowie Einrichtungen des Öffentlichen Gesundheitsdiens-tes könnte eng kooperiert werden.
Die Anbindung eines solchen Kinderzentrums an eine bestehende Kinderklinik bietet sich an. Die Finanzierung eines Kinderzentrums müsste einerseits durch Verträge mit den für die am-bulante Behandlung zuständigen Kostenträgern vorgenommen werden, andererseits muss das Krankenhaus zur Finanzierung beitragen.
Die Einrichtung einzelner Kinderzentren in Berlin würde nichts an dem Primat der hausärztli-chen Versorgung der Kinder und Jugendlichen durch die niedergelassenen Kinderärzte än-dern. Mit der Bildung eines solchen Kindergesundheitszentrums sollte aber im Rahmen eines Modellprojektes in Berlin begonnen werden.
*Es handelt sich um eine gekürzte Fassung, die ausführliche kann angefordert werden bei:
Sekretariat
c/o Susanne Thieme
Charité, Campus Virchow Klinikum
Klinik für Pädiatrie mit Schwerpunkt Endokrinologie, Gastroenterologie und Stoffwechselerkrankungen
Augustenburger Platz 1
13353 Berlin
Tel (030) 450 566352
Fax (030) 450 566917
susanne.thieme@charite.de
Anlage
Wandel der Inhalte der Kinderheilkunde im Laufe des 20. Jahr-hunderts und Aspekte der zukünftigen Pädiatrie
Klassische pädiatrische Krankheiten (1900-1950)
Hohe Säuglings- und Kindersterblichkeit
Infektionskrankheiten
Epidemien (Grippe, Polio)
Mangelernährung
Krankheiten durch enge Wohnverhältnisse
Geringe Behandlungsmöglichkeiten für chronische Krankheiten
Die neuen Morbiditäten (1950-2000)
Neue Epidemien (Drogen, Gewalt)
Dysfunktion der Familien
Hohe soziale Belastung der Familien mit Kindern
Notwendigkeit von Erziehungshilfen
Immigration von Familien mit unterschiedlichem ethnischem, kulturellem und
religiösem Hintergrund
Lernstörungen
Verhaltensauffälligkeiten
Psychosoziale und emotionale Störungen
Kommunikationsstörungen
Fehlernährung
Essstörungen
Aspekte der zukünftigen Pädiatrie (ab 2000)
Weitere Verlagerung von Diagnostik und Therapie aus der stationären in die
ambulante Pädiatrie
In den Kinderkrankenhäusern Diagnostik und Behandlung mittels hochspezialisierter
Medizin (u.a. Intensiv¬pflege, Neonatologie, Kardiologie, Onkologie)
Höhere Überlebenschancen von Kindern mit chronischen Krankheiten und
strukturellen Fehlbildungen
Höherer Anteil von in Armut lebenden Kindern, insbesondere Verarmung der
Ein-Eltern-Familien
Hohe berufliche Mobilität mit inkonstanter Umwelt für die Kinder